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Energieresilienz – das vergessene Fundament der Daseinsvorsorge

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Von Dr. Erich Merkle


Energieresilienz als blinder Fleck der Daseinsvorsorge


Deutschland gilt als hochentwickeltes Industrieland, als Standort mit einer der zuverlässigsten Stromversorgungen weltweit. Über 99,9 % Verfügbarkeit suggerieren Stabilität. Diese Zahl vermittelt Sicherheit – und doch ist sie trügerisch. Denn sie berücksichtigt nicht die wachsende Verwundbarkeit durch gezielte Angriffe, hybride Bedrohungen und extreme Wetterlagen.


Wenn heute von Daseinsvorsorge gesprochen wird, denken wir an sauberes Trinkwasser, Feuerwehr, Polizei, Gesundheitswesen. All das ist durchdacht und im Ernstfall funktionsfähig. Allein die Feuerwehr ist mit rund 50.000 Standorten flächendeckend präsent. Sie garantiert, dass selbst in entlegenen Dörfern die Brandbekämpfung in Minuten erfolgen kann. Deshalb ist es für jeden Hausbesitzer selbstverständlich, eine Feuerversicherung abzuschließen, obwohl die Wahrscheinlichkeit eines Wohnhausbrandes vergleichsweise gering ist.


Die paradoxe Situation: Vor Bränden, die nur selten eintreten, schützen wir uns systematisch und lückenlos. Vor einem großflächigen Blackout, dessen Wahrscheinlichkeit von Behörden und Sicherheitsdiensten inzwischen als „erhöht und ernstzunehmend“ eingestuft wird, existiert dagegen kein vergleichbares Schutzsystem. Energieresilienz – also die Fähigkeit, die Stromversorgung auch unter Extrembedingungen oder Angriffen aufrechtzuerhalten – ist der blinde Fleck unserer Sicherheitsarchitektur.


Bedrohungslage heute – hybride Kriegsführung und verletzliche Infrastrukturen


Seit Jahren warnen Verfassungsschutz, Bundeswehr und Sicherheitsbehörden vor einer steigenden Gefährdung unserer Energieversorgung. Russland, China, aber auch nichtstaatliche Akteure setzen auf hybride Kriegsstrategien, die physische, digitale und psychologische Angriffe kombiniert. Sabotage, Cyberattacken und gezielte Desinformation wirken zusammen, um Gesellschaften zu destabilisieren.


Die Energieversorgung ist dabei ein hochattraktives Ziel: Wenige Schläge an der richtigen Stelle reichen, um auch hochindustrialisierte Länder in Schockstarre zu versetzen. Während klassische militärische Angriffe sichtbar und kalkulierbar sind, vollzieht sich ein Angriff auf Energieinfrastruktur lautlos, schnell und mit sofortiger Wirkung.


Schon heute gibt es dokumentierte Fälle in Europa:

Sabotageakte an Umspannwerken und Gasleitungen (Nordstream 2) in Skandinavien.

Cyberattacken auf Netzleitstellen in der Ukraine, die 2015 und 2016 Millionen Menschen stundenlang vom Stromnetz trennten.

Erhöhte Spionageaktivitäten in Deutschland, gezielt auf Energieunternehmen und Netzbetreiber.


Deutsche Behörden haben die Bedrohung daher hochgestuft: Ein Angriff auf kritische Infrastruktur gilt nicht mehr als theoretisches Risiko, sondern als realistische Gefahr. Trotzdem ist die Vorsorge erschreckend gering. Während die Feuerwehr und THW regelmäßig üben und ausgerüstet sind, gibt es für Blackout / Brownout-Szenarien so gut wie keine flächendeckenden Übungen oder systematische Notfallpläne.


Der Fall Berlin 2025 – minimaler Angriff, maximale Wirkung


Am 9. September 2025 brannten in Berlin zwei Hochspannungsmasten (von ca. 200.000 in D). Der Anschlag war einfach, technisch unspektakulär – aber mit weitreichender Wirkung. Rund 50.000 Haushalte und Betriebe waren unmittelbar ohne Strom. Krankenhäuser mussten Patienten in andere Stadtteile verlegen, Ampeln fielen aus, der Verkehr kam zum Erliegen. Die Polizei sprach von einer „gezielten Sabotage“, mutmaßlich durch linksextremistische Gruppen.


Der Berliner Fall verdeutlicht drei Dinge:

Erstens, dass selbst kleinste Angriffe auf die Energieinfrastruktur enorme Kettenreaktionen auslösen können. Zwei Hochspannungsmasten und genügend kriminelle Energie, genügten, um eine Millionenstadt zu destabilisieren.


Zweitens, dass die Reaktionszeit der Gesellschaft extrem kurz ist. Schon nach wenigen Stunden häuften sich Notrufe, Tankstellen meldeten Ausfälle, und Menschen begannen, Wasser und Nahrungsmittel zu hamstern.


Drittens, dass die bestehenden Notstromlösungen unzureichend sind. Kliniken sind auf Dieselgeneratoren angewiesen, die in der Theorie 48 bis 72 Stunden überbrücken sollen. Doch auch diese Systeme hängen an fragilen Ketten: Wenn Tankstellen nicht mehr pumpen können und Logistikzentren stillstehen, versiegt die Versorgung mit Treibstoff.

Berlin war ein Warnschuss – und doch wurde er in Politik und Gesellschaft kaum ernst genommen. Die öffentliche Debatte drehte sich wenige Tage später wieder um Strompreise und Förderinstrumente, statt um Resilienz. Dabei zeigt gerade dieser Fall: Energie Resilienz entscheidet über Sicherheit, Handlungsfähigkeit und Vertrauen in den Staat.


Szenario: Drei bis fünf Angriffe – ein Land im Dunkeln


Das Berliner Beispiel war lokal begrenzt. Doch was wäre, wenn Angreifer systematisch vorgingen? Die deutsche Stromversorgung ruht auf wenigen Hundert großen Umspannwerken und Knotenpunkten. Schon drei bis fünf koordinierte Angriffe könnten ausreichen, um große Teile des Landes lahmzulegen.


Stellen wir uns vor: Ein Sabotageakt auf ein 380-kV-Umspannwerk in Niedersachsen, ein zweiter auf eine Netzkupplung in Bayern, ein dritter auf ein Rechenzentrum für Netzsteuerung im Westen. Binnen Minuten wäre das gesamte deutsche Hochspannungsnetz instabil. Die Folge: großflächige Abschaltungen, um einen Netzkollaps zu verhindern. Millionen Haushalte und Betriebe wären schlagartig ohne Strom.


Das Gefährliche: Solche Angriffe sind mit verhältnismäßig geringem Aufwand möglich. Masten lassen sich anzünden, Trafos mit Sprengstoff beschädigen, Kabelsysteme sabotieren. Der Schaden steht in keinem Verhältnis zu den eingesetzten Mitteln. Und die gesellschaftliche Wirkung wäre enorm: Ein unsichtbarer, plötzlicher Angriff, der das Vertrauen in Staat und Sicherheit tief erschüttert.


Immense Kosten eines Blackouts


Ein Blackout ist nicht nur ein Komfortverlust, sondern ein ökonomisches Desaster. Studien beziffern die Kosten eines einzigen Tages ohne Strom in Deutschland auf 20 bis 30 Milliarden Euro. Das entspricht dem Bruttoinlandsprodukt einer mittleren Großstadt.

Nach einer Woche läge der wirtschaftliche Schaden bereits bei über 150 Milliarden Euro. Produktionsanlagen stehen still, Lieferketten reißen, Kühlhäuser verderben, Krankenhäuser können nicht mehr arbeiten, Börsen brechen zusammen. Selbst Versicherungen können diese Dimension kaum abdecken – viele Schäden wären schlicht nicht versicherbar.

Doch noch gravierender sind die „soft costs“, die nicht in Bilanzen auftauchen. Schon nach 48 Stunden beginnt das Vertrauen der Bevölkerung zu bröckeln. Menschen hamstern Lebensmittel, Wasser und Treibstoff. Nach 72 Stunden drohen Plünderungen und Unruhen. Polizei und Feuerwehr geraten an ihre Grenzen, Rettungsdienste müssen Notfälle priorisieren. Nach fünf Tagen ohne Strom ist die Gefahr groß, dass gesellschaftliche Ordnung und Vertrauen irreversibel beschädigt werden.

Kurz: Ein Blackout wäre teurer als jede denkbare Investition in Resilienz.


Parallele: Feuerwehr und Feuerversicherung


Der Vergleich mit dem Brandschutz drängt sich auf. Nahezu Jeder Hausbesitzer hat eine Feuerversicherung. Sie ist so selbstverständlich, dass kaum jemand sie infrage stellt – obwohl die Wahrscheinlichkeit eines Hausbrandes relativ gering ist. Der Staat und die Kommunen unterhalten zudem rund 50.000 Feuerwehren. Deren Existenz wird nicht diskutiert, sondern als Teil der Daseinsvorsorge akzeptiert.


Die Energieversorgung dagegen – eine viel größere und realere Gefahr – bleibt ohne vergleichbaren Schutz. Wir haben kein flächendeckendes System an „Energiefeuerwehren“, die im Ernstfall einspringen. Wir haben auch keine Pflichtversicherung, die Schäden eines Blackouts auffängt. Stattdessen verlassen wir uns auf die Hoffnung, dass schon nichts passieren wird und Statistiken die längst überholt sind.


Dabei zeigt der Berliner Vorfall, wie trügerisch diese Hoffnung ist. Und er macht deutlich: Unsere Feuerwehren, so professionell sie organisiert sind, wären im Blackout selbst nach wenigen Tagen machtlos. Ohne Treibstoff für Löschfahrzeuge und ohne Strom für Pumpen und Leitstellen stünde auch dieser Rettungsanker still. Ein Schutzsystem, das selbst vom Strom abhängt, ist im Blackout nutzlos.

Die eigentliche Frage lautet also: Warum akzeptieren wir es, dass wir uns gegen Brände umfassend absichern, nicht aber gegen Blackouts, die weitaus wahrscheinlicher und zerstörerischer sind?


Grenzen der Diesel-Notstromversorgung


Wenn heute über Notfallvorsorge gesprochen wird, lautet die Standardantwort fast reflexartig: „Wir haben Dieselgeneratoren.“ Tatsächlich verfügen die meisten Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen und viele öffentliche Gebäude über diese Technik. Doch die vermeintliche Sicherheit erweist sich bei genauerem Hinsehen als Illusion.

Diesel-Notstromaggregate sind in der Regel nur für wenige Stunden oder Tage ausgelegt. Sie können kurzfristig helfen, einen Operationssaal oder eine Leitstelle am Laufen zu halten. Doch die Achillesferse ist die Versorgungskette: Schon nach 48 bis 72 Stunden sind die Tanks leer. Ohne funktionierende Tankstellen und ohne logistische Versorgung bricht das System zusammen. Genau in dem Moment, in dem es am dringendsten gebraucht wird, wird es wertlos.


Hinzu kommt: Viele dieser Aggregate sind schlecht gewartet. Tests zeigen, dass ein erheblicher Teil im Ernstfall nicht zuverlässig anspringt. In der Krise, wenn es wirklich zählt, könnten also zahlreiche Einrichtungen im Dunkeln stehen. Diesel-Notstrom mag als Beruhigungspille wirken – für eine resiliente Gesellschaft ist es keine tragfähige Lösung.


Internationale Beispiele – Lehren aus Katastrophen


Andere Länder haben aus Krisen gelernt. Deutschland nicht.

Japan hat nach der Fukushima-Katastrophe 2011 umfassend in Resilienz investiert. Schulen und Gemeindezentren wurden zu Resilienz-Hubs ausgebaut: ausgestattet mit Photovoltaik, Batterien und Inselnetzfähigkeit. Fällt das Netz aus, übernehmen sie automatisch und können ganze Nachbarschaften versorgen.


Puerto Rico erlebte 2017 nach Hurrikan Maria den Albtraum: weite Teile der Insel waren monatelang ohne Strom. In der Folge baute man systematisch Microgrids auf – kleine, autarke Netze, die mit PV und Speichern ausgestattet sind und Krankenhäuser, Schulen und Supermärkte absichern.


Israel hat erkannt, dass Energieversorgung auch ein sicherheitspolitisches Thema ist. PV-Speicher-Lösungen werden dort gezielt als Rückgrat der Landesverteidigung genutzt – in der Landwirtschaft, im Zivilschutz, im Militär.

Deutschland dagegen hat bis heute keine vergleichbaren Programme. Wir verlassen uns auf ein zentrales Netz – und ignorieren, dass es längst selbst zum Ziel geworden ist.


Lösungen: Photovoltaik und Inselnetze als Rückgrat der Resilienz


Die Lösung ist weder kompliziert noch neu: Photovoltaik in Kombination mit Batteriespeichern und Inselnetzfähigkeit.

Photovoltaik ist dezentral, millionenfach installierbar und damit deutlich schwerer anzugreifen als zentrale Großkraftwerke. In Verbindung mit Speichern können Anlagen nicht nur Strom für den Alltag liefern, sondern im Blackout-Modus kritische Einrichtungen über Tage und Wochen absichern. Moderne Wechselrichter sind in der Lage, eigenständig ein Netz zu formen („grid-forming“) und so unabhängig vom Verbundnetz eine stabile Versorgung zu gewährleisten.


AgriPV eröffnet zusätzlich die Chance, Landwirtschaft und Energieversorgung zu verbinden. Landwirte können Strom erzeugen, speichern und im Krisenfall ihre Höfe sowie umliegende Dörfer versorgen. Sie werden so zu Energie- und Versorgungsankern – für Lebensmittel ebenso wie für Strom.


Konkret bedeutet das:

  • Jedes Krankenhaus, jede Schule und jede Kommune braucht PV + Speicher für mindestens 72 Stunden Autarkie.

  • Feuerwehr- und Katastrophenschutzzentralen müssen über eigene Inselnetze verfügen.

  • Landwirtschaftliche Betriebe sollten als dezentrale Resilienzpunkte gefördert werden.

  • Blackout-Übungen müssen so selbstverständlich werden wie Feuerwehrübungen.


Politische Forderungen und Ausblick


Resilienz darf kein Randthema mehr sein. Sie muss ins Zentrum der Daseinsvorsorge rücken. So wie wir Feuerwehren finanzieren und Feuerversicherungen verpflichtend machen, so brauchen wir auch Energiefeuerwehren – dezentrale PV-Inselnetze, die im Ernstfall das Überleben sichern.


Die Kosten wären überschaubar. Ein landesweites Programm zur Ausstattung kritischer Einrichtungen mit PV-Speichern würde wenige Milliarden Euro kosten – ein Bruchteil dessen, was ein einziger Blackout pro Tag vernichtet. Die Investition ist daher nicht nur sicherheitspolitisch geboten, sondern auch ökonomisch rational.


Das Fachbuch „Energieresilienz – das vergessene Fundament der Daseinsvorsorge“ von Dr. Erich Merkle, das im Oktober 2025 im AgriPV Verlag erscheinen soll, legt erstmals umfassend dar, wie diese Konzepte umgesetzt werden können. Merkle ist kein Panikmacher, kein Verschwörungsmensch, sondern ein angesehener Praktiker und Realist. Er zeigt mit wissenschaftlicher Präzision, dass die Bedrohung real ist – und dass die Lösungen längst existieren. Es fehlt nur der politische und private Wille, sie umzusetzen.

Deutschland muss sich entschließen: Wollen wir weiter auf Glück hoffen und riskieren, dass wenige gezielte Anschläge oder Krisen unser Leben lahmlegen? Oder nehmen wir die Bedrohung ernst und handeln wie bei Feuerwehren und Versicherungen – eigenverantwortlich, präventiv, konsequent, flächendeckend?

Die Zeit des Wegduckens ist vorbei. Energieresilienz ist nicht Luxus. Sie ist eine Überlebensfrage.


Für mehr Infos zum Buch und Vorbestellungen schicken Sie bitte einfach eine Mail an: verlag@agripv.de


Hören Sie zum Thema auch gern in unsere aktuelle Gridparity-Podcast-Folge 20 „Photvoltaik, Resilienz & die Zukunft unserer Energieversorgung“ rein…



 
 
 

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